Schulen weiter öffnen – aber mit Abstand!

Offener Brief des Personalrat Schulen zum Beschluss des Senats zum eingeschränkten Regelbetrieb an Schulen vom 09.06.2020

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Mitglieder des Senats,

am 09.06.2020 hat der Senat beschlossen, den Präsenzunterricht an den Grundschulen ab dem 22.06.2020 in Form eines sogenannten eingeschränkten Regelbetriebs auszuweiten.

Dazu gehört, dass alle Jahrgangsstufen in der jeweiligen Klassenstärke unterrichtet werden sollen. Als Begründung führt der Senat an, es werde „derzeit bundesweit darüber diskutiert, dass Kinder im Alter von 0 bis 10 Jahren als Überträger des Virus eine untergeordnete Rolle spielen und somit die Abstandsregel vom 1,5 Metern aufgehoben werden kann.“ Weiter ist in der Presseerklärung des Senats zu lesen, Auslöser für die Debatte und die bundesweiten Öffnungsstrategien seien „diverse Studien, unter anderem erste Erkenntnisse aus Forschungsergebnissen der Universitätsklinik Heidelberg.“

Es müssen wissenschaftliche Maßstäbe gelten!

Da wir uns in der Diskussion um Bildungseinrichtungen bewegen, sollten doch wissenschaftliche und keine populären Maßstäbe an die angeführten Argumente angelegt werden.

Wenn man das tut, lässt sich feststellen, dass die Erkenntnisse der Universitätsklinik noch nicht vorliegen – wir also nicht prüfen können, wie belastbar diese sind – und wir haben nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen in Bremen den Inhalt der Studie kennen. Außerdem wurde uns auf Nachfrage eine weitere „Studie“ präsentiert, die auch in den anderen Bundesländern als Begründung für die Aufgabe des Abstandsgebots in Grundschulen und Kitas herangezogen wird. Es handelt sich bei diesem Papier jedoch keineswegs um eine Studie, sondern um eine Stellungnahme verschiedener Organisationen aus den Bereichen Krankenhaushygiene sowie Kinder- und Jugendmedizin.

Dies als Studie zu bezeichnen ist aus naturwissenschaftlicher Sicht unlauter und inakzeptabel.

Das Robert Koch Institut, immerhin die Organisation, die das Pandemiegeschehen maßgeblich wissenschaftlich begleitet und die Studienlage dazu zusammenträgt, schreibt dazu aktuell in seinem Steckbrief zu SARS-CoV-2 (Stand 29.05.2020) unter 4. „In der Zusammenschau der bisher erhobenen Daten scheinen Kinder etwas weniger empfänglich für eine SARS-COV-2-Infektion zu sein und spielen im Übertragungsgeschehen möglicherweise eine geringere Rolle als Erwachsene, obgleich erste Studien zur Viruslast bei Kindern keinen wesentlichen Unterschied zu Erwachsenen erbracht haben. … Zu beachten ist, dass die meisten Studien im Lockdown durchgeführt wurden. Sie lassen daher keine Rückschlüsse auf die Normalsituation mit geöffneten Bildungseinrichtungen zu. Zwei Studien, die nicht im Lockdown durchgeführt wurden, weisen darauf hin, dass Kinder keine niedrigere Seroprävalenz haben als Erwachsene. Eine abschließende Einschätzung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich.“

 Auch die Ergebnisse der Studie der Charité unter Beteiligung von Christian Drosten, die zumindest als Preprint bereits erschienen ist, ergeben keinen Hinweis, dass Kinder in einem nennenswert geringeren Umfang das Virus übertragen.

Offensichtlich ist, dass Kinder ein geringeres Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken – das gilt aber nicht für deren Familien und viele Beschäftigte.

Natürlich gibt es auch in der Fachwelt derzeit unterschiedliche Einschätzungen dazu, welche Rolle Kinder im Infektionsgeschehen spielen. Das liegt daran, dass dieses Virus nun einmal vollkommen neu ist und belastbare Erkenntnisse erst gewonnen werden müssen. Sich aber vorschnell für eine Richtung, die einem gerade zupasskommt, zu entscheiden, ist angesichts der erheblichen Gesundheitsrisiken der falsche Weg.

 

Spielt der Abstand keine Rolle mehr?

Man muss sich fragen, welche Botschaft hier ausgesendet wird. Eine, wenn nicht gar die wichtigste Maßnahme, nämlich Abstand zu unseren Mitmenschen zu halten, um das Ansteckungsrisiko zu verringern, gilt auf einmal in Kitas und Grundschulen nicht mehr – überall sonst bleibt es weiterhin die bedeutsamste Präventionsmaßnahme, solange es keinen Impfstoff oder wirksame Medikamente gibt.

Und man muss sich fragen: Ist das überhaupt rechtens nach den eigenen Maßstäben, die sich der Gesetzgeber gestellt hat? Interessanterweise wird in der siebten und aktuellsten Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in praktisch allen öffentlichen Bereichen inklusive der weiterführenden Schulen, gefordert, dass Abstandsgebot einzuhalten – nur nicht in Kitas und Grundschulen. Begründung? Fehlanzeige!

Was soll man davon halten, dass Eltern beim Besuch eines Outdoorspielplatzes darauf achten sollen, dass die Kinder einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten sollen, es in geschlossenen Schulräumen aber offenbar nicht notwendig ist. Das ist einfach nur absurd und stellt eine Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber dem Personal sowie den Kindern und deren Familien dar.

Das Aussenden eines so widersprüchlichen und verharmlosenden Signals gefährdet unseres Erachtens darüber hinaus auch die Gesundheit aller.

 

Isolierung der Lerngruppen funktioniert nicht!

Aufgefangen werden soll das Risiko von Neuinfektionen in Grundschulen durch getrennte Gruppen und feste Zuordnungen von Personal. Aber eins ist klar: Das funktioniert schon jetzt oft nicht, wo die Gruppen noch klein sind. Kinder, die in ihrer Klasse vier Stunden am Tag Präsenzunterricht haben, gehen anschließend in ihre Betreuung, wo sie Kontakt zu Kindern aus anderen Klassen und weiteren Beschäftigten haben.

Zwei Dinge gibt es, die wir positiv würdigen möchten: die Bildungsbehörde hat für das Personal FFP-2-Masken, Spuckschutz und Visiere geordert, die auf Wunsch an die Kolleg*innen ausgegeben werden sollen. Zu einer Empfehlung, diese persönliche Schutzausrüstung auch zu nutzen, konnte sich die Behörde leider nicht durchringen.

Und zweitens: Beschäftigte erhalten einen erleichterten Zugang zu Tests.

Wir halten eine genaue Beobachtung der Schulen mithilfe von weitreichenden Tests – auch präventiv – für dringend geboten.

 

Dem Wettbewerbsdruck nicht einfach nachgeben!

Wir sehen natürlich auch, dass ein enormer öffentlicher Druck auf der Politik lastet und dass der Überbietungswettbewerb der Bundesländer es für Bremen schwer macht, seinen eigenen, eigentlich vernünftigen Weg notfalls auch allein weiter zu gehen. Aber egal wie groß der Druck ist, in Zeiten der Pandemie muss Politik sich von wissenschaftlichen Fakten und Daten und nicht von Meinungen leiten lassen. Alles andere ist unverantwortlich!

Natürlich sollen Schulen geöffnet werden und die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf Bildung gewahrt werden – dem widerspricht niemand. Aber es muss so passieren, dass nach bestem begründetem Wissen die Gesundheit von Beschäftigten, den Kindern und deren Familien geschützt wird.

Das ist auf dem von Ihnen eingeschlagenen Weg nicht gewährleistet und wir erwarten, dass Sie Ihre Entscheidungen überdenken und auf belegbare Daten stützen. Wir brauchen dringend Konzepte, wie Schulöffnungen unter den Bedingungen der Pandemie, also auch mit Einhaltung der Abstandsgebote, gelingen können.

 

Mit freundlichen Grüßen

Angelika Hanauer

(Vorsitzende des Personalrat Schulen)

 

 

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